Jürgen Habermas —Pflegevater oder Sorgenkind der Abolitionistischen Perspektive?

Mathieu Deflem
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This is a copy of an article in Kriminologisches Journal 24(2):82-97, 1992.

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Please cite as: Deflem, Mathieu. 1992. “Jürgen Habermas —Pflegevater oder Sorgenkind der abolitionistischen Perspektive?” Kriminologisches Journal 24(2):82-97.



Dieser Beitrag diskutiert den Einfluß des Werks von Habermas auf die kriminologische Theoriebildung in der abolitionistischen Bewegung. Nach einer kurzen Einleitung in die Hauptthemen von Habermas’ Version der Kritischen Theorie wird auf die Verwendung seiner Überlegungen in den theoretischen Arbeiten des Abolitionismus eingegangen, insbesondere auf die Rolle der Begriffe System und Lebenswelt. In einem letzten Abschnitt werden einige kritische Überlegungen zur Rezeption von Habermas im Abolitionismus formuliert.

This paper presents a discussion on the influence of the work of Jurgen Habermas for criminological theory-building in the abolitionist movement. First, a short introduction to the main elements in Habermas’s critical theory is offered. Next, it is explored in what way Habermas’s thoughts have been used in theoretical contributions to the abolitionist perspective. Attention is especially focused on the way in which Habermas’s notions of system and lifeworld come into abolitionist analyses. Finally, some problems and criticisms are identified with regard to applications of Habermas’s theory in abolitionist criminology.

Übersetzung: Reinhard Kreissl.

1. Vorbemerkung

Der folgende Text beschaftigt sich mit dem Einfluß der Arbeit von Habermas auf den Abolitionismus. Dabei geht es um die Frage, ob die Arbeiten von Habermas einen Beitrag zu dieser kriminologischen Theorierichtung liefern und wenn ja, worin dieser besteht. Zwei dergemeinhin als zentral angesehenen Aspekte des Habermasschen Denkens stehen dabei im Vordergrund: seine wissenschaftstheoretischen Uberlegungen und seine Theorie kommunikativen Handelns. Beide haben, wie im folgenden gezeigt werden soll, die kriminologische Theoriebildung beeinflußt. Die Bedeutung dieser beiden Theorien für die kriminologische Theoriebildung wird sodann untersucht, um abschließend einige kritische Überlegungen über die Anwendbarkeit dieser Ideen in der Kriminologie zu formulieren.

2. Ein kurzer Spaziergang durch Habermasland

Der folgende Abschnitt präsentiert einen kurzen ueberblick über Habermas’ Ideen der Erkenntnisinteressen und des kommunikativen Handelns, im vollen Bewustsein, daß der Komplexität des Autors dabei nicht Genuege geleistet werden kann. Allerdings geht es hier auch mir um, einige Aspekte, die Wr die Verwendung des Habermasschen Ansatzes im Abolitionismus von Bedeutung sind.

2.1 Philosophie und Wissenschaft als Kritik

In den sechziger Jahren diskutierte Habermas in verschiedenen Arbeiten (vgl. Habermas, 1963, 1968a, 1968b) epistemologische Probleme von Wissenschaft und Philosophie. Insbesondere entwickelte er dabei die Unterscheidung von drei Erkenntnisinteressen: 1. das technische Inter-esse der empirisch-analytisch verfahrenden Wissenschaften, das auf den technischen Gebrauch und die wissenschaftlich-technische Kontrolle der Natur abzielt, 2. das praktische Interesse der hermeneutisch-historischen Wissenschaften, das auf das sinnhafte Verstehen subjektiver Orientierun-gen zielt, und 3. das sog. emanzipatorische Erkenntnisinteresse der Kritischen Theorie, deren Anliegen Emanzipation und grundlegende Kritik und Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist.

Mit der Identifikation der verschiedenen Erkenntnisinteressen versuchte Haber-mas nachzuweisen, daß far ein umfassendes Verständnis der Wissenschaf-ten die Berücksichtigung der unterschiedlichen normativen Orientierun-gen, die wissenschaftliches Handeln steuern, notwendig ist. Für die kritische Theorie stellt sich dabei ein doppeltes Problem: sie muss einerseits als fundamentale Kritik von Wissenschaft und Gesellschaft konzipiert sein und zweitens die Umrisse einer idealen Gesellschaft entwerfen. In seiner Theorie kommunikativen Handelns zeigt Habermas, wie eine solche Kritik zu verfahren habe.

2.2 Einige Stichworte zur Theorie kommunikativen Handelns

Ausgangspunkt der Theorie kommunikativen Handelns ist das Problem der Rationalität (Habermas 1981). Habermas unterscheidet zwei Rationalitätsbegriffe: kognitiv-instrumentelle und kommunikative Rationalität. Die eine zielt auf individuell definierten Handlungserfolg, die andere auf gegenseitige Verständigung. Da die Objektivität der gesellschaftlichen Wirklichkeit von einem geteilten Verständnis dieser Wirklichkeit abhängt, konzentriert sich Habermas auf das Problem der kommunikati-ven Rationalität. Ihn interessiert die Frage, wie Verständigung erreicht werden kann. Durch eine Analyse der Formen des Sprachgebrauchs gelangt Habermas zu dem Schluss, daß in sprachlichen Ausserungen verschiedene Geltungsansprüche vorgebracht werden: mit einem wohlgeformten und verstdändlichen Sprechakt werden Ansprüche auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit vorgebracht. Diese Ansprüche können von einem Hörer kritisiert werden und stehen dann einer rationalen Diskussion offen. Dies geschieht, indem, die Beteiligten sich auf einen Diskurs einlassen, in dem sie für jeden vorgebrachten Anspruch gute Gründe beibringen. Habermas unterscheidet zwischen dem theoretischen Diskurs, in dem Wahrheitsansprüche Überprüft werden, dem, praktischen Diskurs, der Anspüche auf Richtigkeit thematisiert und dem explikativen Diskurs über die Wohlgeformtheit eines Sprechaktes. Gelten in diesen Diskursen nur Argumente, so sind zugleich die Bedingungen der idealen Sprechsituation erfüllt.

Sprechakte werden üblicherweise nicht in Frage gestellt, da sie durch eine gemeinsame geteilte Definition lebensweltlicher Realität koordiniert werden. Unter Lebenswelt versteht Habermas die von den Akteuren geteilten Traditionen (Kultur), die solidarischen Gruppenbeziehungen zwischen den Handelnden (Gesellschaft) und den Sozialisationsprozeß, in dem die Strukturen der Persönlichkeit entwickelt werden. Diese Lebenswelt wird jedoch im Verlauf ihrer historischen Entwicklung rationalisiert, d.h. sie differenziert sich entlang der verschiedenen Dimensionen, in denen die Geltungsansprüche formuliert werden, aus. Dabei entstehen unterschiedliche kulturelle Institutionen: Die Wissenschaften für den theoretischen Diskurs, Recht und Moral für den praktischen.

Störungen der sozialen Evolution lassen sich im Rahmen dieser Interpretation als Entkopplung von System und Lebenswelt darstellen, als Folge der Entwicklung systemischer Strukturen, die nicht mehr mit ihren Urspungen in der Lebenswelt verbunden sind. Die systemisch verfassten Bereiche von Staat und Oekonomie haben sich von ihrer kommunikativen Fundierung abgekoppelt, Koordinationsleistungen werden nicht mehr dutch kommunikatives Handeln, sondern durch die generalisierten Medien Geld und Macht erbracht. Darüber hinaus intervenieren systemisch verfasste Bereiche in die kommunikativen Strukturen der Lebenswelt. Habermas spricht hier von der Kolonisierung der Lebenswelt durch systemische Intervention. Besondere Bedeutung kommt hier dem Recht zu, das —als kulturelle Institution— einerseits die Medien Macht und Geld lebensweltlich verankern kann, auf der anderen Seite —als systemisch verfasster Handlungszusammenhang— auf nicht-kommunikative Art in die Lebenswelt interveniert.

3. Kommunikatives Handeln und Entkriminalisierung: Habermas als Pflegevater des Abolitionismus

Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns hat die abolitionistische Perspektive in der Kriminologie beeinflusst. Ich werde im folgenden nur kurz die abolitionistische Perspektive skizzieren, um dann auf die Punkte hinzuweisen, an denen Habermas hier ins Spiel kommt und zwar sowohl in bezug auf die analytische Erfassung der Probleme, als auch bezüglich der kriminalpolitischen Reformvorschläge.

3.1 Die abolitionistische Perspektive von Louk Hulsman

Die von dem niederländischen Strafrechtler Hulsman entwickelte Position gilt als eine der wichtigsten innerhalb der abolitionistischen Bewegung. Im folgenden konzentriere ich mich auf den Einfluß, den Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns auf Hulsmans Arbeit hat.1
In Hulsmans Ansatz steht nicht das Verbrechen im Vordergrund der Analyse, sondern das Strafrecht und das Kriminaljustizsystem, also all jene sozialen Ereignisse, Organisationen und Arrangements, die mit der Art und Weise zu tun haben, in dereine Gesellschaft vorgibt, Lösungen für Verhalten, das sie als “kriminell” bezeichnet, zu entwickeln. Für Hulsman sind Versuche, bestimmte Verhaltensweisen als kriminell zu definieren, sinnlos und von vornherein zum Scheitern verurteilt. Bestimmte Verhaltensweisen können problematisch sein, aber die Strafjustiz liefert keine Usungen für problematische Verhaltensweisen. (Hulsman spricht hier von Ereignissen und nicht von Handlungen oder Verhalten, um dadurch das Augenmerk auf Situationen, in denen Probleme auftauchen, statt auf den einzelnen Akteur zu lenken.) Ferner enteignet das Kriminaljustizsystem die Personen, die ein Problem haben und stülpt dem Ganzen ein entmenschlichtes Modell über, bei dem einzig die persönlich zurechenbare Schuld eines einzelnen Akteurs im Vordergrund steht. Ausserdem erzeugt das Kriminaljustizsystem zusätzlichen Schaden, indem es die Betroffenen individuell bestraft. Hulsman geht davon aus, daß das Kriminaljustizsystem insgesamt so problematisch ist, daß es abgeschafft werden, oder in seinen inhumanen Zugriffsmöglichkeiten zumindest soweit beschnitten werden sollte, daß alternative (de-professionalisierte, de-institutionalisierte, de-zentralisierte) Formen der Konfliktlösung, die näher an den Bedürfnissen der Betroffenen ansetzen, entwickelt werden können.

Bezüglich eines Einflusses von Habermas auf Hulsmans Arbeit muss zunächst klargestellt werden, daß Hulsman nicht von den Arbeiten von Habermas ausgeht. Seine Interpretation der Praxis des Kriminaljustizsystems ist inspiriert durch die Labeling-Perspektive, durch die Phänomenologie und den Interaktionismus. Erst in einer späteren Phase greift Hulsman zur Darstellung seiner Befunde auf Habermas zurück. Begriffe der kritischen Theorie Habermasscher Prägung tauchen bei Hulsman —oft ohne bibliographische Verweise— auf.2

Konkret greift Hulsman Habermas’ Unterscheidung von System und Lebenswelt auf, um das problematische Verhältnis zwischen dem Kriminaljustizsystem und den alltäglichen Konflikten, die dort verarbeitet werden, zu beschreiben. In der holländischen Ausgabe von Peines Perdues weist Hulsman explizit auf die Parallele zwischen Habermas’ Vorstellung von Lebenswelt und seiner eigenen phänomenologischen Darstellung des Alltagslebens auf der einen Seite und dem Habermasschen Systembegriff und seiner Analyse des Kriminaljustizsystems auf der anderen Seite hin (vgl. Hulsman 1986a, S. 149-150).Wie sehr Hulsman durch das Denken von Habermas inspiriert ist, wird deutlich bei der Analyse der holländischen Drogenpolitik, wo Hulsman die These von der Kolonisierung der Lebenswelt aufgreift (vgl. Hulsman 1984a, 1984c).3 Auf der Basis von Galtungs Dreifarbenmodell der gesellschaftlichen Entwicklung unterscheidet Hulsman drei wichtige historische Entwicklungsphasen: die blaue Phase der Industrialisierung, die rote Phase des Wohlfahrtstaats, und als Reaktion auf diese beiden, die grüne Phase der Multi-Dimensionalität, die der Vielfalt des gesellschaftlichen Alltaas izerecht wird. Auf der Basis dieses Modells kritisiert Hulsman die von der “Single Convention” inspirierte Drogenpolitik der Niederlande als eine Form des kolonisierenden Zugriffs durch das Kriminaljustizsystem auf die grünen Sektoren der holländischen Geselischaft. Die “grüne” Politik im Umgang mit den weichen Drogen in den Niederlanden hatte jedoch gezeigt, daß in diesem Bereich eine Kolonisierung möglich ist.

3.2 Variationen des phaenomenologischen Abolitionismus

Hulsmans Abolitionismus ist ein Votum für nicht-kriminalisierende, lokale Initiativen, die, da sie näher an der Alltagserfahrung der Betroffenen ansetzen, gerechtere Lösungen fdr problematische Ereignisse ermöglichen. Das langfristige Ziel hinter dieser Vorstellung ist die Entstehung einer neuen Geselischaft, in der das Kriminaljustizsystem seinen dehumanisierenden, systemischen Einfluss verloren haben wird.

Willem de Haan (1986, 1988, 1990) vertritt eine ähnliche Position. De Haan beruft sich explizit auf Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns und plädiert für die Abschaffung der strafrechtlichen Reaktionsformen zugunsten praktisch orientierter Wiedergutmachungsmechanismen als Problemlösungsstrategie. Das Kriminaljustizsystem sollte als Machtmedium und das Strafrecht als das systemische, kolonisierende gesellschaftliche Kontrollmedium für gesellschaftlich definierte Kriminalität interpretiert werden. Kriminalpolitisch folgt daraus die Alternative, daß alle Konfliktbeteiligten in einen Dialog eingebunden werden sollten. Die prozeduralen Bestimmungen von Habermas’ Diskursmodell liefern hier einen Ansatzpunkt für die Entwicklung kommunikativer Konfliktlösungsmechanismen, die im Gegensatz zum Strafrecht nicht staatlicher Kontrolle unterliegen, sondern nher an den wahren Problemen der Betroffenen ansetzen. De Haan sieht dabei natifflich die Notwendigkeit einer minimalen legalen Ordming, die die Bedingungen für solche praktischen Diskurse sichert. Ebenfalls mit Hinweis auf Habermas votiert Knut Papendorf für eine “unfertige Politik”, als Übergangslösung auf dem Weg zum Abolitionismus (vgl. Papendorf, 1985). Konkrete Initiativen einer “negativen Kriminalpolitik” können hier ein effektives Gegenge-wicht zum offiziellen Kriminaljustizsystem bilden. Dagegen argumentiert Garz (1987), daß Habermas und seine abolitionistischen Anhänger nach wie vor und fälschlicherweise noch der Idee der Aufkädrung verhaftet sind. Daher, so die Schlußfolgerung von Garz, sollten kleine, lokale pragmatische abolitionistische Initiativen entwickelt werden, die den von Proble-men Betroffenen mehr konstruktive Lösungsmöglichkeiten anbieten.

3.3 Von der Phänomenologie des Handelns zur Struktur des Systems

Die abolitionistische Perspektive in der Kriminologie umfasst mehrere, nicht unbedingt vereinbare Ansätze. Einige davon liefern eine (sympathische) Kritik an Hulsman und anderen phänomenologisch orientierten AbolitionistInnen, da these den weiteren strukturellen Handlungskontext des Kriminaljustizsystems nicht in Rechnung stellen. Einige dieser Kritiker verteidigen ihre Argumente mit Bezug auf Habermas.

Die Kritik des strukturellen Abolitionismus an Hulsman verweist auf den sozialen, politischen, ökonomischen und ideologischen Kontext des Kriminaljustizsystems (vgl. Van Outrive, 1983, 1987, 1988), den ein eng gefasster phänomenologischer Ansatz ausblendet. Hulsman beschrdnke sich zu sehr auf die unmittelbaren Folgen für die betroffenen Individuen und Gruppen. Dabei entsteht der Verdacht, daß die historische Spezifik und die gesellschaftsstrukturellen Funktionen des Kriminaljustizsystems ausgeblendet werden. Daher seien Hulsman’s Vorschläge zur Abschaffung dieses Systems unrealisierbar und, was schlimmer ist, analytisch zu verwerfen. Eine humanere Form der Konfliktlösung sei unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen nicht realisierbar und nur strukturelle gesellschaftspolitische Verdnderungen könnten hier Abhilfe schaffen.

Einige der Autoren, die einen strukturellen Abolitionismus vertreten, beziehen sich auf Habermas, um abolitionistische Argumente strukturell besser abzusichern. So argumentiert etwa Alessandro Baratta, daß die phänomenologische Perspektive zwar auf die Willkürlichkeit der Vorstellung von Verbrechen in der Gesellschaft hinweisen könne, daß dies aber nicht hinreiche, werm nicht die materiellen Bedingungen, unter denen bestimmte Akte als kriminelle definiert werden, in Rechnung gestellt würden (vgl. Baratta, 1985, 1986, 1990; Baratta und Silbernagel, 1988). Baratta schlägt als Grundlage der Analyse drei theoretische Konstrukte vor: soziale Ereignisse sind negativ zu bewerten, wenn sie 1. eine Negation realer Bedürfnisse darstellen, 2. als objektive Konstruktionen sozialer Probleme darstellbar sind, und 3. wenn these Einschätzung das Ergebnis einer “gewaltfreien Kommunikation zwischen den Trägern dieser Bedilrf-nisse” sind (Baratta, 1985, S. 45). Mit dem letzten Punkt dieser Bestim-mung greift Baratta Habermas’ Idee der idealen Sprechsituation auf. Ferrier argumentiert Baratta, mit Verweis auf Habermas und gegen die enge phänomenologische Perspektive von Hulsman, daß die Konstruktion des Verbrechens im Kriminaljustizsystem der gegenwärtigen Gesellschaft nicht nur den davon unmittelbar Betroffenen Schaden zuffigt, sondern daß diese Konstruktion auch ein Ausdruck der strukturellen Herrschaftsverhaltnisse, die erst unter kapitalistischen Bedingungen möglich wurden, sind.

Ahnlich —und ebenfalls mit Bezug auf Habermas— argumentiert Reinhard Kreissl, daß die Hauptaufgabe des Kriminaljustizsystems in der Reproduktion einer bestiminten sozialen und normativen Ordnung bestehe, die insbesondere dann gesichert werden muß, wenn in einer Gesellschaft Krisen der Reproduktion entstehen (vgl. Kreissl, 1985,1986). Um diese Idee der Krise zu entwickeln, argumentiert Kreissl, in einer Linie mit Habermas, daß Probleme innerhalb der strafrechtlichen Selbstwahrnehmung nur dann auftauchen, wenn die Mechanismen sozialer Integration der Lebenswelt gefährdet sind. In dieser Situation treten die Akteure sozialer Kontrolle in Aktion, nicht jedoch um die Ursachen der Kriminali-ät (instrumentell) anzugehen, sondern zuallererst, um die symbolische Ordnung des gesellschaftlichen Status quo zu sichern.

Ausfillirlicher als Kreissl und Baratta und ebenf ails unter Bezugnahme auf Habermas geht Gerlinda Smaus auf die systemische, kolonisierende Beschaffenheit des Kriminaljustizsystems ein (vgl. Smaus, 1985a, 1985b, 1986, 1987). In einer kritischen Analyse der für moderne Gesellschaften typischen Verrechtlichungstendenzen und der Verschärfung des straf-rechtlichen Diskurses durch Bezugnahme auf die Idee der Generalprävention, betont Smaus, daß die derzeit herrschenden normativen Vorstellun-gen des Strafrechts nicht im Konsens der Allgemeinheit wurzeln, da sie nicht das Produkt eines herrschaftsfreien Diskurses seien (Smaus, 1985a, S. 101). Das Strafrecht kolonisiert einerseits die Lebenswelten und ist andererseits gemäss seinen eigenen Erfordernissen funktional. Hulsman setzt hier auf eine dekolonisierende Politik, die aus der Lebenswelt heraus erwächst, aber Smaus geht in die entgegengesetzte Richtung und betont —mit Habermas— die systemrationalen Aspekte, die Hulsman aufgrund seines Ansatzes nicht in den Blick bekommt. Diese systemrationalen Aspekte lassen sich unter Bezugnahme auf die insgesamt problematische Struktur kapitalistischer Gesellschaften erklären. Das hesst, abolitionisti-sche Perspektiven haben nur dann eine Chance, werm sie durch umfasende gesellschaftspolitische Massnahmen abgestützt werden. Strukturelle AbolitionistInnen stehen so vor einer ungeheuren Aufgabe: nicht nur sollte das Kriminaljustizsystem reformiert werden, sondern sein gesamter sozialer und politischer Kontext muß erheblich geändert werden.

Andere abolitionistische AutorInnen aber nehmen einige der strukturel-len Argumente, teilen aber nicht die pessimistische Perspektive der Strukturalisten bezüglich politischer Optionen und berufen sich dabei allerdings auch auf Habermas. Sebastian Scheerer hält die strukturellen AbolitionistInnen für zu pessimistisch, wenn sie alle lokalen Initiativen als letztlich systemfunktionale Illusion abtun (vgl. Scheerer 1983a, 1984, 1989). Erstens sei die abolitionistische Bewegung, so Scheerer mit Bezug auf Habermas, selbst eine Reaktion aus der Sphäre der Lebenswelt, die sich gegen allzu weitreichende Intervention in das Alltagsleben richtet: abolitionistische Theorie ist für Scheerer de facto eine anti-kolonisierende Praxis. Ferner sieht Scheerer nicht nur Tendenzen zu einer Kolonisierung der Lebenswelt (1983a, S. 15), auf die die strukturellen AbolitionistInnen zwar zu Recht, aber zu ausschließlich hinweisen, sondern zugleich die lebensweltlichen Reaktionen aus den Alternativkulturen, die der systemi-schen Kolonisierung wenigstens teilweise Einhalt gebieten. Eine umfas-sende Gesellschaftsanalyse muß aus der Sicht von Scheerer nicht zwangsläufig zu so anti-voluntaristischen Schlußfolgerungen führen, wie sie Baratta, Kreissl oder Smaus vertreten.

4. Die (alte) Unuebersichtlichkeit der Kritischen Kriminologie: Habermas als Sorgenkind des Abolitionismus

Es ist nicht das Ziel dieser Überlegungen, eine alternative, von Habermas inspirierte Interpretation von Kriminalität und Strafrecht zu entwickeln. Bisher ging es lediglich darum, Einflüsse eines Habermasschen Denkens in der abolitionistischen Theorie freizulegen. Es ist offensichtlich, daß Habermas, obwohl er allgemein als einer der grössten zeitgenössischen Gesellschaftstheoretiker betrachtet wird, auf sehr unterschiedliche, z. T. inkonsistente Weise und nur bedingt Eingang in die abolitionistischen Debatten (und die Kritische Kriminologie im allgemeinen) gefunden hat.4 Zudem gibt es m. E. einige zentrale Probleme in der Art, wie abolitionisti-sche Argumentationen sich auf Habermas berufen. Diese Probleme sollen im folgenden diskutiert werden.

4.1 Die Kritische Kriminologie im Zwiespalt zwischen Verbrechen und Kontrolle

Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen in der jüngsten Vergangen-heit der Kritischen Kriminologie war ohne Zweifel die Auseinandersetzung aber die Frage, inwieweit die Beschäftigung mit Verbrechen eine sirinvolle theoretische Aufgabe ist. Insbesondere der von der Bewegung des Linken Realismus erfundene Slogan “Take crime seriously” hat zu einer hitzigen Auseinandersetzung über die Aufgaben einer kritischen Kriminologie geführt. Interessanterweise haben die beiden amerikanischen Kriminologen Walter Groves und Robert Sampson (1986) einen kritisch kriminologischen Ansatz der Kriminalitätsentstehung entwickelt, der den linken Realisten nahesteht und sich explizit auf Habermas’ Konzept der erkenntnisleitenden Interessen beruft. Ihr Argument zielt auf eine Verbindung struktureller, kultureller und kritischer Erklärungsansätze von Kriminalität als eines sozialen Phänomens im Rahmen einer kritischen Kriminologie. Strukturelle Theorien, denen die Autoren das technische Erkenntnisinteresse der empirischen Wissenschaften zuordnen, können die strukturellen Bedingungen freilegen, die bestimmte Teile einer Gesellschaft oder einer Masse veranlassen, sich kriminell, statt konform zu verhalten. Kulturorientierte kriminologische Theorien, die, wie die Autoren in Anlehnung an Habermas argumentieren, das praktische Interesse der hermeneutischen Tradition verfolgen, können die für die Akteure subjektiv sinnstiftenden kulturellen Korrelate dieses (strukturdeterminierten) Verhaltens analysieren.

Schliesslich votieren Groves und Sampson für eine abergreifende kritische Perspektive, die sich auf Habermas’ emanzipatorisches Erkenntnisinteresse einer Kritischen Theorie beruft. Hier wird dann argumentiert, daß die Gründe und Ursachen nicht nur analysiert, sondern auf der Grundlage einer fundamentalen Kritik (der strukturellen kriminogenen Faktoren) in Richtung einer Emanzipation der Akteure verdndert werden sollten. Die Habermassche lösung übere eine ideale Sprechsituation wird von Groves und Sampson abgelehnt; die strukturellen Bedingungen kapitalistischer Gesellschaften sollten ihrer Meinung nach zuerst angegangen werden, kommunikatives Handeln werde sich darm, da es von den strukturellen Rahmenbedingungen abhängt, von selbst einstellen.

Bemerkenswert ist hier, daß, während der Abolitionismus dazu neigt, die Vorstellung von Kriminalität zurückzuweisen und sich auf das Kriminaljustizsystem zu konzentrieren, Groves und Sampson in ihrem kritisch kriminologischen Ansatz das Kriminaljustizsystem oder andere Institutionen sozialer Kontrolle außen vor lassen. In beiden Fällen wird zur Begründung des theoretischen Arguments Habermas eingeführt.

Meines Erachtens ist die Art der Bezugnahme auf Habermas, wie sie Groves und Sampson einführen, aus der Sicht von Habermas unakzeptabel. Erstens scheinen die beiden Autoren Habermas’ Konzept der Erkenntnisinteressen mißverstanden zu haben. Das Ziel dieser Überlegungen war sicherlich nicht die Entwicklung eines alle Interessen umfas-senden sozialwissenschafflichen Ansatzes. Im Gegenteil, Habermas wollte mit dem Begriff des emanzipatorischen Erkenntnisinteresses die Beschränktheit des empirisch-analytischen und hermeneutischen Wissenschaftsverständisses aufzeigen und die Verbindung jeder Art von Erkennt-nis mit normativen Zielen nachweisen. Demgegenüber nehmen Groves und Sampson an, die verschiedenen Erkenntnisinteressen kriminologischer Theorien könnten ohne weitere Probleme in einem umfassenden theoretischen Bezugsrahmen integriert werden. Aber wie sich Groves und Sampson auf Habermas berufen können, werm sie eine Verbindung traditioneller und neo-marxistischer Analyseformen (die beide von vollkommen unterschiedlichen normativen Annahmen ausgehen) vorschlagen, und wie sie an einem positivistischen Begriff der Kriminalitätsverursachung im Rahmen einer radikal kriminologischen Perspektive festhalten können, das ist eine in hohem Maße offene Frage.5

Man kann gegen diesen Ansatz ferner einwenden, daß er nur im Rahmen einer neorealistischen Vorstellung eine Erkldrung entwickeln kann, während die Prozesse und Institutionen sozialer Kontrolle (in denen die gesellschaftliche Definition von Kriminalität entwickelt wird) nicht berücksichtigt werden. Eine kritische marxistische Perspektive, die Groves und Sampson vorgeben einzunehmen, kommt wohl kaum um Fragen nach sozialer Kontrolle und der Beschaffenheit des Kriminaljustizsystems herum. Meines Erachtens werden these Probleme innerhalb des Abolitionismus auf adäquatere Weise behandelt. Der Abolitionismus hat einige wichtige Schlußfolgerungen aus dem phänomenologischen Turn in den Sozialwissenschaften gezogen. Der Konstruktion sozialer Probleme und dem systemischen Einfluß des Kriminaljustizsystems auf die Lebenswelt wird im Rahmen des Abolitionismus die gebührende Aufmerksam-keit geschenkt. Mit ihrer Forderung, den weiteren strukturellen gesellschaftlichen Kontext des Strafrechts zu berücksichtigen, erfüllen die strukturellen AbolitionistInnen die methodische Forderung von Habermas nach einer Perspektive kritischer Totalisierung. Schliesslich ist festzuhalten, daß das Widerstandspotential der Lebenswelt gegen systemfunktionale Kolonisierung von seiten des Abolitionismus in Rechnung gestellt wird. Trotzdem bleiben einige Probleme bel der Anwendung der Haber-masschen Gedanken im Abolitionismus.

4.2 Die abolitionistische Analyse: Probleme in der Lebenswelt oder Funktionen des Systems?

René van Swaaningen schreibt in seiner historischen Analyse des Abolitionismus: “Am Anfang der Entwicklung eines wissenschaftlichen Abolitionismus stehen die Arbeiten von drei Philosophen ... : Michel Foucault, Jürgen Habermas und Ivan Illich.” (1988, S. 66). Diese Behauptung ist nur teilweise zutreffend. Es ist falsch, die Arbeiten dieser drei Philosophen als Ursprung des Abolitionismus zu bezeichnen. Der Abolitionismus entstand vielmehr zusammen mit der kriminologischen Forschung und unabhängig von den Arbeiten der drei genannten Autoren. Damit ist natifflich nicht gesagt, daß der Abolitionismus in seiner Entwicklung nicht von einigen bekannten zeitgenössischen Philosophen profitiert hat. In diesem Artikel etwa sind die Einflüsse von Habermas in einigen abolitionistischen Theorien nachgezeichnet worden. Aber es handelt sich hier m.E. um nichts anderes als ein Einfügen Habermasscher Ideen in einen an sich bereits existierenden abolitionistischen Bezugsrahmen. Dies wird deutlich an der unsystematischen Art, in der die Arbeiten von Habermas im Abolitionismus zur Anwendung kommen. So tauchen in Hulsmans Schriften die von Habermas entwickelten Begriffe (Lebenswelt, Kolonisierung, System) nur sporadisch auf. Hulsmans Verwendung dieser Begriffe erscheint eher metaphorisch: das Modell von Lebenswelt vs. System gleicht zufdllig der in seinem Bezugsrahmen verwendeten Unter-scheidung von Alltagsleben vs. Kriminaljustizsystem.

Die strukturell orientierten AbolitionistInnen scheinen mehr von Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns in ihre Analysen aufzunehmen, insbesondere weil ihre Untersuchungen ausgedehnter sind und weitere Aspekte des Kriminaljustizsystems im Rahmen einer umfassenden Gesellschaftstheorie in Rechnung stellen. So gesehen kommen sie näher an die methodische Forderung von Habermas, systemische und handlungstheoretische Aspekte der Analyse zu verbinden. Bei Habermas ist das Individuum sowohl kreatives Subjekt (in der kommunikativ strukturierten Lebenswelt), als auch verdinglichtes Objekt (in systemisch strukturierten Zusammenhängen). Andererseits haben die strukturellen AbolitionistInnen, die sich Habermas erst in einem relativ späten Stadium der Entwicklung ihres Ansatzes zugewandt haben, nicht alle Konsequenzen der Habermasschen Theorie in Rechnung gestellt. Zu nennen wären hier folgende Aspekte: der kommunikative Charakter des Habermasschen Lebensweltbegriffs und seine (technisch komplizierte) Sprachanalyse; die von Habermas entwickelte Evolutionstheorie und die dabei wichtigen Prozesse der Komplexitätssteigerung in der Lebenswelt bzw. der Entkopplung von Lebenswelt und System; die Analyse der Systeme Staat und Wirtschaft und der entsprechenden Medien Macht und Geld (wobei das Kriminaljustizsystem bei Habermas nicht explizit betrachtet wird); Habermas’ ausführliche Diskussion des Rechtssystems und seiner Rolle bei der Verankerung systemischer Imperative in lebensweltlichen Strukturen. Keiner dieser Punkte wird im strukturellen Abolitionismus explizit angesprochen und man kann vermuten, daß gerade darin die relative Beliebigkeit der Bezugnahme auf Habermas im Abolitionismus begründet liegt.

Schliesslich beziehen sich die AbolitionistInnen zur Unterstützung ihrer theoretischen Positionen oft auf Foucault. Es ist nicht überraschend, daß dessen Arbeiten aber die Entstehung des Strafsystems viele AbolitionistInnen inspiriert hat (vgl. Foucault, 1975). Foucaults Kritik, am Gefängnis (und dem Kriminaljustizsystem) und seine Vorstellung der Disziplinie-rung der Körper ist für viele AbolitionistInnen eine Bestätigung.6 Andererseits findet sich nirgends ein Hinweis auf die vielen kontroversen Punkte, auf die Differenz und (Un)vereinbarkeit zwischen Foucault und Habermas.7 Habermas betrachtet die gesellschaftliche Entwicklung der Gegenwart nach dem Zweiten Weltkrieg, Foucault beschdftigt sich mit dem Gefängnissystem des neunzehnten Jahrhunderts; Habermas entwik-kelt eine Makro-, Foucault eine Mikroperspektive der Gesellschaft; Habermas hält am Begriff der Rationalität fest, während Foucault keine Rationalität in der Postmoderne entdecken kann; Habermas lässt Raum für kommunikativ vermittelten subjektiven Sinn, Foucault geht von der totalen Objektivierung aus; Habermas’ Begriff der Kolonisierung operiert mit der Vorstellung eines Eindringens systemrationaler Imperative in die Lebenswelt, während Foucault die Produktivitat der Irrationalitäten der Macht betont; schliefflich konzentriert sich Habermas auf die Regeln des positiven Rechts, während Foucault normalisierende Regulierungen im allgemeinen analysiert.

Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, these Punkte im einzelnen zu diskutieren. Die Tatsache, daß sie im Abolitionismus nicht zur Sprache kommen, zeigt doch, daß dort die Grundlagen des eigenen theoretischen Programms nicht voll untersucht werden, bzw. these Aufgabe anderen überlassen wird.

4.3 Die abolitionistische Praxis: Entformalisierung oder Verrechtlichung?

Unabähngig von der Frage, ob sich die abolitionistische Analyse des Kriminaljustizsystems sinnvollerweise auf Habermas berufen kann, stellt sich das Problem, ob die abolitionistischen Politikempfehlungen aus einer Habermasschen Perspektive verteidigt werden können. Habermas hat sich mit den Problemen des Rechts ausführlich auseinandergesetzt und seine Rechtssoziologie ist breit diskutiert worden. Einige Punkte in dieser Debatte verweisen auf —für den Abolitionismus nicht ganz unproblemati-sche— Aspekte der Habermasschen Theorie des Rechts.

Wie bereits erwähnt, betrachtet Habermas in seiner Theorie kommunika-tiven Handelns das Recht unter der doppelten Perspektive von Institution und Medium. In spateren Arbeiten hat er these Sicht jedoch modifiziert (vgl. Habermas, 1987, 1988).8 In den friffieren Arbeiten zur Theorie kommunikativen Handelns hat Habermas die Tatsache Obersehen, daß das Recht sowohl über eine moralische Legitimation verfügen, als auch kolonisierende Folgen zeitigen kann. Nun argumentiert Habermas prozeduralistisch in der Begründung des Rechts und verweist auf die Idee des demokratischen Rechtsstaats. Die prozedurale Rationalität des Rechts ist garantiert, wenn rechtliche Diskurse in bestimmten institutionalisierten Prozeduren verlaufen. Die formalen Eigenschaften des Rechts in einem demokratischen Rechtsstaat verkörpern einen allgemeinen, keinen kon-kreten moralischen Gehalt. Die Prinzipien, die die Moralität des Rechts sichern, sollten auf einer moralischen Argumentationsform basieren, die sich an den Prinzipien des praktischen Diskurses orientiert (vgl. Habermas 1983). In diesem Zusammenhang argumentiert Habermas etwa, daß Formen des zivilen Widerstands keinen Angriff auf die Rechtsordnung als solche darstellen, obwohl sie natürlich die bewußte Verletzung bestimmter rechtlicher Regelungen einschließen (vgl. Habermas, 1985b, 1986). Die Rechtsordnung behalt in den Augen der Regelverletzer ihre Legitimitat, da Gesetze das Produkt demokratischer Entscheidungsprozeduren in gesetzgebenden Körperschaften sind. Solche Entscheidungen sollten sich an den Prinzipien des praktischen Diskurses orientieren, d.h. sie sollten auf guten Gründen basieren, die von den Betroffenen akzeptiert bzw. zurückgewiesen werden können.

Die Notwendigkeit dieser Reorientierung in Habermas’ rechtstheoretischen Überlegungen ist von mehreren Seiten betont worden. So haben z.B. Peter Bal und Pieter Ippel argumentiert, daß in rechtlichen Kontexten häufiger Verrechtlichung als Informalisierung stattfindet, daß durch Verrechtlichung die prozeduralen Anforderungen erhöht werden, wodurch wiederum eine bessere Gleichstellung der Konfliktparteien (nach den Kriterien der herrschaftsfreien Kommunikation) erreicht werden kann, und daß schließlich das Modell des praktischen Diskurses in Gerichtsverhandlungen als kontrafaktisches Ideal und regulative Idee wirksam ist (vgl. Bal, 1988; Bal u. Ippel, 1982; Ippel, 1988). Verrechtlichung muß nicht so problematisch sein, wic sie Habermas darstellt. Nach Wibren Van der Burg liegen positive Effekte von Verrechtlichung dann vor, wenn es gelingt, die Rolle der Medien Macht und Geld auf die Bereiche Politik und Oekonomie zu begrenzen, oder wenn durch Verrechtlichungsprozesse Entscheidungen und Meinungen vorgebeugt wird, die nicht auf kommunikativ erzeugtem Konsens basieren. Schliesslich kann Verrechtlichung einen Riegel gegen kolonisierende Interventionen aus den systemisch strukturierten Bereichen in die Lebenswelt vorschieben (vgl. Van der Burg, 1985; Raes 1985,1986).

Willem de Haan (1990, S. 122) hat schliesslich darauf hingewiesen, daß den prozeduralen Forderungen des praktischen Diskurses substantielle Prinzipien von Gerechtigkeit und Solidarität zugrunde liegen. Andere Autoren haben Habermas’ Ansatz kritisiert, da ein formales Modell legitimitdtsstiftender Prozeduren ohne Berijcksichtigung substantieller Prinzipien sinnlos sei. Aus dieser Perspektive verweist z.B. Paul Cobben (1989) darauf, daß rechtliche Diskurse immer auf moralische Werte verweisen, sodaß der praktische Diskurs im Recht nur dann als rational bezeichnet werden kann, wenn Freiheit und Gleichheit in einer Gesellschaft garantiert sind. In eine ähnliche Richtung geht das Argument von Peter Bal (1990), der das Modell des praktischen Diskurses in die Diskussion über Menschenrechte (als die letzte ethische Basis moralisch-rechtlicher Diskurse) einbettet.

Es ist bemerkenswert, daß Verrechtlichung aus der Perspektive von Habermas nicht insgesamt so negativ zu bewerten ist, wie es der Abolitionismus vorschlägt. Der phänomenologisch orientierte Abolitionismus lehnt jede Art der Konfliktlösung ab, die nicht innerhalb der Lebenswelt erreicht wird (rechtliche Arrangements werden als per definitionem inhuman abgelehnt). Der strukturell orientierte Abolitionismus sieht Strafrecht und die Praxis des Kriminaljustizsystems nur unter der Perspektive ihrer kolonisierenden Effekte (alles was unter den Bedingungen einer kapitalistischen Gesellschaft in Rechtsform daherkommt, ist von Haus aus verdächtig). Es ist offensichtlich, daß beide Varianten des Abolitionismus der Komplexität von Habermas’ Position nicht gerecht werden. Unabhängig von der Frage, ob eine besser begründete abolitionistische Position durch Berufung auf Habermas konstruiert werden könnte, bleibt festzuhalten, daß die abolitionistische Theorie noch weit davon entfernt ist, sich aus den Verwirrungen ihrer eigenen Grundlagen zu befreien und daß noch viel theoretische Arbeit notwendig ist, soll dabei mehr herauskommen als kursorische Verweise auf den einen oder anderen Meisterdenker der zeitgenössischen Gesellschaftsstheorie.

Anmerkungen

(1) Für eine ausfürlichere Darstellung der abolitionistischen Perspektive von Hulsman s. Hulsman (1982, 1986a, 1986b); Hulsman u. Bernat de Celis (1982); Scheerer (1983b)

(2) Meines Wissens verwendet Hulsman einige der Konzepte von Habermas zum ersten Mal in Peines Perdues, wo er verschiedene Interpretationen des Strafrechts als “colonisés” bezeichnet (Hulsman u. Bernat de Celis, 1982, S. 38).

(3) In diesen Arbeiten nimmt Hulsman nicht explizit auf Habermas Bezug. Erstaunlicherweise verwendet Hulsman in einem anderen Artikel über Drogenpo-litik keinen der Habermasschen Begriffe (vgl. Hulsman, 1984b).

(4) Von Interesse sind in diesem Zusammenhang die Studien von Melossi (1990) und Nogala (1989). Melossi entwickelt eine staatszentrierte Perspektive sozialer Kontrolle, die sich teilweise auf Habermas stützt, während Nogala in seiner Untersuchung der Verwendung neuer Technologien bei der Polizei ausgeht und sich einer Habermasschen Epistemologie bedient. Beide liefern jedoch keine eingehende Diskussion von Habermas, sondern erwähnen ihn lediglich in Fussnoten.

(5) Vgl. hierzu auch die Kritik von Barak (1987) und Bohm (1987), die ebenfalls den radikalen und kritischen Gehalt der Analyse von Groves und Sampson anzweifeln (s. hicrzu deren Rcplik, Groves u. Sampson, 1987b).

(6) Auf den Einfluss FOUCAULTS im Abolitionismus vcrde ich hier nicht nahcr eingehen (s. z. B. De Folter, 1986; Van Ransbeek, 1989; Van Swaaningen, 1991, S. 165ff.).

(7) Habermas hat Foucaults Arbeiten ausführlich kritisiert (vgl. Habermas, 1985 a) und es hat einige Diskussionen Über die Möglichkeiten der Integration der Arbeiten dieser beiden Autoren gegeben (vgl. Dumm, 1988; Keulartz u. Keulartz u. Kunneman, 1984; Kunneman, 1986. S. 347-410; Laermans, 1984, 1986; Van Ransbeek, 1989. S. 7-8; White 1986).

(8) Zur Entwicklung von Habermas’ Rechtssoziologie, zur vorgebrachten Kritik daran und zu den durch sie inspirierten Forschungen vgl. meinen Überblicksartikel (Deflem, im Druck).
Habermas (persönl. Mitteilung) bereitet ein neues Buch fiber Rechtstheorie vor, das voraussichtlich Ende 1992 erscheinen und einige klärende Bemerkungen zu diesen Problemen enthalten wird.

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